Gottesfurcht – Anfang der Weisheit

Im Evangelium vom 12. Sonntag im Jahreskreis (A) spricht Jesus von der Menschenfurcht, die uns versuchen kann, wenn wir uns zu ihm bekennen. Das Heilmittel dagegen ist die wahre Gottesfurcht: “Fürchtet euch nicht vor den Menschen! … sondern fürchtet euch vor dem, der Seele und Leib ins Verderben der Hölle stürzen kann” (Mt 10,26-33).

Kardinal Ratzinger hat in einem Vortrag am 7.2.1987 zum 100. Geburtstag von Kardinal Frings über dieses Thema gesprochen. Er sagt unter anderem:

“Ich habe schon früh und oft darüber nachgedacht, was es eigentlich bedeutet, wenn die Bibel immer wieder sagt: Die Gottesfurcht ist der Anfang der Weisheit, und es ist mir lange Zeit sehr schwer gefallen, in den Sinn dieses Satzes einzudringen. Aber jetzt beginne ich ihn von seiner Umkehrung her so real zu begreifen, dass ich seine Wahrheit geradezu mit Händen zu berühren glaube. Denn was sich zusehends vor unseren Augen abspielt, lässt sich in die Worte fassen: Die Menschenfurcht, d. h. das Ende der Gottesfurcht, ist der Anfang aller Torheit. Die Gottesfurcht ist heute praktisch aus dem Tugendkatalog verschwunden, seitdem das Gottesbild den Gesetzen der Werbung unterworfen wurde. Gott muss, um werbewirksam zu erscheinen, gerade umgekehrt so dargestellt werden, dass niemand irgendwie Furcht vor ihm empfinden kann. Auf diese Weise breitet sich in unserer Gesellschaft und mitten in der Kirche immer mehr wieder jene Umkehrung der Wertungen aus, die die eigentliche Krankheit der vorchristlichen Religionsgeschichte gewesen war.

Denn auch da hatte sich die Meinung durchgesetzt, dass man den guten Gott, den eigentlichen Gott, nicht zu fürchten brauche, weil von ihm als dem Guten ja nur Gutes kommen könne. Hüten muss man sich vor den bösen Mächten. Nur sie sind gefährlich, und mit ihnen muss man sich daher auf jede Weise gut zu stellen versuchen. In dieser Maxime ist das Wesen des Götzendienstes als Abfall vom Gottesdienst zu sehen. Aber in diesem Götzendienst stehen wir mitten drin. Der gute Gott schadet uns sowieso nicht; mehr als eine Art Urvertrauen braucht man auf ihn nicht zu verwenden.

Aber der gefährlichen Mächte gibt es um uns nur allzu viele, und mit ihnen muss man auszukommen versuchen. Und so handeln Menschen in und außerhalb der Kirche, Hohe und Niedrige, nicht mehr mit Blick auf Gott und seine Maßstäbe, die ja unwichtig sind, sondern mit Blick auf die menschlichen Mächte, um halbwegs glücklich durch die Welt zu kommen. Sie handeln für den Schein ‑ für das, was man von uns hält und wie man uns darstellt.

Die Diktatur des Scheins ist der Götzendienst unserer Stunde, den es auch in der Kirche gibt. Die Menschenfurcht ist der Anfang der Torheit, aber die Menschenfurcht herrscht unverrückbar, wo die Gottesfurcht abgetreten ist.”