Herbergssuche einmal anders

In einer kleinen Berggemeinde gehörte die alljährliche Weihnachtsaufführung der Schüler der damals noch einklassigen Volksschule zur festen Dorftradition. Der Wirt des Gasthauses “Leuen” stellte immer seinen Saal zur Verfügung. Der Lehrer Gottlieb Egglmann inszenierte mit seinen 30 Schülern die Weihnachtsgeschichte. Bei der Rollenverteilung war es für den Lehrer nicht schwierig, jemanden für Josef und Maria, die Engel, die Hirten usw. zu finden. Aber die Rolle des Wirtes, der Maria und Josef bei der Herbergssuche unbarmherzig wegjagen sollte, wollte niemand gerne spielen.

So musste schließlich Roberto, der Sohn eines italienischen Gastarbeiterehepaares, welches im Restaurant “Leuen“ seit Jahren in der Küche arbeitete, die Rolle übernehmen. Er musste. Erstens, weil er noch nicht so gut deutsch sprach, und zweitens schien er mit seinem dunklen, gekrausten Haar und den dunklen Augen am ehesten einem Bösewicht zu gleichen. Das war auf alle Fälle die Meinung der halben Klasse.

Der kleine Roberto lernte seine Rolle schnell und gut. Lautstark schmetterte er bei den Proben sein “Nein, von mir bekommt ihr kein Zimmer! Gesindel, verschwindet!“ von der Bühne. Aber: Wie hasste er doch seine Rolle.

Endlich war es soweit, der große Tag stand vor der Tür. Der kleine Saal war zum Bersten voll. Mit leuchtenden Augen standen die Kinder in ihren selbstgemachten Kostümen da. Vor allem Maria strahlte. Mit ihren Zapfenlocken war sie wunderschön anzusehen. Und wie sie spielten! Der Lehrer Egglmann wurde immer größer und stolzer, denn was seine Kinder auf der Bühne boten, war schlicht erstaunlich.
Nun folgte der zweite Akt beim Gastwirt, bei Roberto. Er stand da mit grimmigem Blick und hörte das Klagen Marias. “Ach Wirt, habe Erbarmen, ich friere! Lass mich in dein Haus!” Es war zum Steinerweichen! Roberto schaute immer grimmiger drein und setzte an, um seinen hundertmal geübten Satz in den Saal zu schmettern.

Doch plötzlich verschwand der dunkle Schatten von seinem Gesicht. Ja, es begann förmlich zu leuchten. Und Roberto sagte mit fester Stimme: “Kommt nur herein. Ich gebe euch mein bestes Zimmer. Und zu essen bekommt ihr auch, soviel ihr wollt.” Und er ergriff Maria zart bei der Schulter und wollte sie durch die Kulissentür in das Gasthaus führen. “Spinnst du?“, rief Maria deutlich hörbar.

Peinliche Sekunden vergingen, ehe der Lehrer, der vor Schrecken fast vom Stuhl gefallen war, endlich “Vorhang, Vorhang!’ schrie. Der Vorhang wurde gezogen, die Weihnachtsaufführung war vorzeitig beendet. Aber sie hat viele zum Nachdenken gebracht und man hat im Dorf noch lange darüber geredet.